Nous serons ouverts après la révolution ! oder Die Abwesenheit der Dinge
Eva-Maria Lopez

 

In der Stille der Nacht – ein Streifzug durch die Rue Saint Honoré
nach dem „Acte IV“ am 8. Dezember 2018 sowie am Morgen danach, im „Triangle d‘or“, Paris.

Shoppen: Zur Zeit wohl am Besten online! So empfiehlt es auch eine Firma, immerhin ist die Verkleidung in weihnachtlichem Rot. Bei meinem Streifzug am Samstagabend des 8. Dezember 2018 durch die wie ausgestorbene Nobelstraße Rue du Faubourg Saint-Honoré ist hinter den Schaufensterscheiben alles zu finden: Braunes Packpapier, weißes Einwickelpapier, alte Kartons oder Werbeplakate, ordentlich oder „á la bricolage francais“, gleichsam als unfreiwillige „Dekoration“ – alles, nur nichts Vorweihnachtliches.

Selbst die für Paris obligatorischen roten Weihnachtsbäume, wie im Restaurant gegenüber des verriegeltem Palais Royal, oder eine echte Katze bleiben lieber drinnen. Draußen überwiegt das Thema „Spanplatte in verschiedenen Ausführungen“, meist im typischen Hellbraun, Grobspan oder in edlem Schwarz. Viele Geschäfte der Rue du Faubourg Saint-Honoré haben diese Platten schon als Maßanfertigungen vorrätig – für Sylvester oder für die Fußballweltmeisterschaft. In diesem Advent werden sie an jedem Freitagabend anmontiert und am Sonntagvormittag wieder abgenommen, bis zu 700 m2 pro Label.

Dunkel ist die Straße an diesem Vorabend des zweiten Advent, der Glamour scheint verblasst. Man sieht ein paar versprengte „Gilets jaunes“, wahrscheinlich auf der Suche nach einer offenen Metro-Station, denn das Zentrum ist großräumig abgesperrt. Eine bizarre Stimmung breitet sich aus. Die an den schönen Fassaden befestigten Spanplatten wirken fast wie eine eigene Architektur: Mal eher wie aus dem Bereich des Modellbaus, dann wiederum gleich einer Skulptur im öffentlichen Raum. Die Situation auf der menschenleeren Straße entwickelt eine eigene Ästhetik, die mich anzieht., Etwas Licht scheint durch die Ritzen der Platten oder durchs dahin geworfene Papier und erzeugt interessante Strukturen. Die leeren Glasvitrinen und Marmorsockeln wirken fast wie Skulpturen in einer Kunstgalerie. Unwillkürlich denke ich an die Kaufhäuser ohne Waren im Havanna vor 20 Jahren...

Die einzige Designerin, die mutig ihre Mode zeigt und dabei wohl unbeschädigt geblieben ist; Vivienne Westwood. Alle anderen haben sich hinter Spanplatten geschützt, mitunter kommentiert mit ironischen Sprüchen: „Wir sehen zwar aus wie eine Weinkiste, doch das Geschäft bleibt für Sie geöffnet“ oder „Wir wünschen allen eine gute Demonstration“. Andere appellieren an die Nachsicht der Demonstrierenden, indem sie mitteilen, nur ein kleines Geschäft ohne Glasversicherung zu sein. Vereinzelt finden sich gelbe Westen im Schaufenster, wohl als Zeichen der Solidarität. Am Aussagekräftigsten finde ich einen Hinweis an einem Schaufenster mit folgender Aufschrift: „Wir öffnen diesen Sonntag ab 11.00 nach der Revolution!“ Die Zeitangabe wurde durchgestrichen und mit der Hand durch „nach der Revolution“ ergänzt.

Nur ein einziges Geschäft in der Rue Saint-Honoré wurde tatsächlich aufgebrochen, jetzt steht der halbe Eingang offen. Die zersprungene Glasscheibe fällt im ersten Moment gar nicht auf, sie wirkt fast wie ein Glasteppich. Am nächsten Morgen dann immer noch das gleiche Bild, ergänzt durch einige Versicherungs- und Wachleute. Sie diskutieren offensichtlich über die Lage der Dinge. Daneben sitzt eine sichtlich aufgelöste Reinigungsfrau auf einem der wieder aufgestellten Stühle.

Die Place Vendôme ist in dieser Nacht zu einem Rückzugsort für die CRS, (Compagnies Républicaines de Sécurité), die Sicherheitseinheiten Frankreichs geworden. Man isst dort ein paar Sandwiches während der Nachtwache. Wie ein sprechender Kommentar wirkt da die Werbung für Piaget auf dem fast ausgestorbenen Platz. Vor der Trajansäule stehen riesige künstliche Weihnachtsbäume wie düstere Wächter. Irgendwas fehlt hier. Ach ja, die Lichterketten, sie sind ausgeschaltet ….

Chinesische Touristen eilen rasch vorbei, nur kurz ein Foto von den nun anonymen Geschäften. Zwei Männer ziehen eilig Rollkoffer hinter sich her, mit Hussen überzogen, wie es sich für dieses noble Stadtviertel gehört. Alle passieren die Straßensperre problemlos, lediglich einige Franzosen offensichtlich afrikanischer Abstammung werden kontrolliert, dann dürfen auch sie passieren. Neben der Absperrung in Richtung Elysee Palast, fällt ein Ausstellungsplakat ins Auge: ein Mann in seinem Atelier zwischen Holzplatten, „Ein Barbar in Paris“. Situationskomik pur. So mancher Slogan wurde gezielt verfremdet. Bei Chanel liest man nun nach dem „Acte IV“: „un parfum de victoire“.

Der Slogan „joy“ für Dior ließe sich angesichts der Situation eher ironischerweise in „the joy is over“ umbenennen, zumindest für die diesjährige Weihnachtssaison. „Noël déboule !“ Ja – da kam was „angekullert“, gleichsam wie ein gelber vorweihnachtlicher Sturm, der über das Einkaufsparadies hinweg fegte und einige Schrammen hinterlassen hat. Neben einer Apotheke steht „colère“ geschrieben, doch ob es eine Arznei gegen diese Form der Wut gibt, erscheint mir doch fraglich.

Ich mache mich auf den Heimweg, lege noch einen Zwischenstopp in einer den wenigen geöffneten Bars ein, am Nebentisch ein deutsches Paar. Sie erzählen, die Kinder hätten ihnen mit dem Pariswochenende eine Freude machen wollen. Doch die meiste Zeit sind sie im Hotel geblieben. Bedauerlicherweise hatten sie vorher keine Nachrichten geschaut in Deutschland…

In der Nacht zum Sonntag fegt dann ein echter Windsturm kräftig durch die Straßen von Paris. Er wird noch übertönt vom ständigen Geheul der Sirenen. Im Fernsehen laufen derweil die immer gleichen Szenen von den Champs Elysees vom Abend, 10 mal… 20 mal. Hier entsteht ein ganz anderer Eindruck als in der Wirklichkeit der Nacht.

Das bestärkt mich, auch am nächsten Tag wieder mit der Kamera durch die Straßen zu ziehen. Denn da ist noch etwas anderes, z. B. die Frage, was an Energie bleibt in den Straßen, nach diesem Samstag? Wie die Abwesenheit der Dinge auf mich wirkt? Menschen, Werbung, Licht, Glitzer... an alles ist man gewöhnt und kann sich nicht vorstellen, wie es anders sein könnte.
An einem Briefkasten entdecke ich einen neuen Graffiti-Slogan, der das schöne „Armour“-Graffiti vom vergangenen Herbst abgelöst hat, er heißt: „Jesus rettet“. Wir werden sehen .... am Montag Abend spricht Präsident Macron zur Grand Nation.



Der Tag danach

Sonntagmorgen, auf dem Weg zum sogenannten „Goldenen Dreieck“ traue ich meinen Augen kaum: Gelbjacken in der Seine! Tatsächlich wird hier ein Stand-up Paddling zum Eiffelturm veranstaltet.

In der Avenue Montaigne parken heute weiße Lieferwagen statt schwarzer Limousinen vor den Geschäften. Ein Hinweis auf einen Rest realen Lebens, das auf diesem 600 m langen, exklusiven Pflaster durch die besonderen Umstände seinen Platz findet. Akkuschrauber brummen, Platten werden rückgebaut, alles wieder ins Lager, bis zum nächsten Einsatz. Die Art, wie die Männer die Platten tragen, erinnert mich an die Bilder im Fernsehen über die Demonstration am Abend zuvor. Das Einzige, das an diesem zweiten Adventsmorgen in den Vorgärten des „Triangle d‘or“ im englischen Stil glitzert, sind die messingfarbenen Holzschrauben mit Senkkopf, sorgfältig auf Häufchen gelegt bis zum nächsten Einsatz.

Drinnen die Putztrupps, die ersten Dekorateure erscheinen, um die Waren frisch auszulegen.  Der Schaden hält sich wohl in Grenzen, nur in einem Geschäft spiegelt sich die sonntägliche Morgensonne in der zersprungen Scheibe. Übrigens wurde die Straße nach dem Moralisten und Philosophen Michel Montaigne benannt, davor war es die Straße der Witwen, ein Gemüsegartenweg außerhalb der Stadt, für die Suche nach galanten Amusement.

Auf den Champs Elysees sind bereits die ersten Touristen beim Shoppen zu beobachten. Manche Geschäfte sind noch verbarrikadiert, doch die Eingangstüren wurden schon für die Kunden geöffnet. Irgendwie schräg: Man betritt ein namenloses Kaufhaus, so etwas gab es hier noch nicht. Auch in Rue Saint-Honoré, ist fast alles wieder hergestellt, in einigen Vitrinen fehlen allerdings noch die Schmuckgegenstände zu den Preisschildern: Wenn es das nur keine Verwechslungen gibt! In einem anderen Laden ziehen zwei Frauen Kleider über die Schaufensterpuppen. Die Frauen tragen T-Shirts, auf denen sinnigerweise steht: „Dream Tomorrow“.

Eine Kundin in einem Geschäft trägt doch tatsächlich eine Gelbweste zu einem merkwürdigen Hut. Das muss ein Missverständnis sein. Vielleicht ist die Frau auf Shoppingtour in Paris, und denkt, das sei nun „en vogue“? Die Cafés haben wieder geöffnet, doch kaum Publikum. Wenige Flaneure sind unterwegs, was sicherlich nicht nur am momentanen Platzregen liegt. Routinemäßig füllt ein Kellner an der Theke einer Bar das Eis im Champagner-Kübel auf, mehrere Dosen mit Kaviar stehen im gekühlten Glasvitrine bereit, für ein Katerfrühstück der besonderen Art. Mir ist eher nach einem starken Espresso zum Aufwärmen zumute, bevor ich mich auf den Heimweg mache.

In einer Nebenstraße, auf einer Fensterscheibe, dann der perfekte Slogan zum Abschluss:
„strange nights“. Sie sind noch nicht vorbei.